Interkulturelles Lernen – kulturspezifische Beratung von jungen Migrantinnen und Migranten/ jugendlichen Flüchtlingen
Migrationsberatung
Die Ausgangssituation
Seit dem Schuljahr 2006/07 existiert an der Theodor-Heuss-Schule eine Migrationsberatung. Das ergab sich daraus, dass ich als Leiter des psychosozialen Zentrums in Frankfurt am Main Schüler und Schülergruppen, der THS beraten habe. In den Jahren 2005 und 2006 führten wir zwei Fortbildungen zum Thema psychosoziale Situationen von Jugendlichen und Folgen von Flucht und Trauma für das Kollegium der THS durch.
Ausgehend von diesen Erfahrungen und den Beratungen seit dem Schuljahr 2006/07 wurde die Notwendigkeit von Migrationsberatung im Rahmen des interkulturellen Lernens in der THS deutlich sichtbar. Der ehemalige Schulleiter Heinrich Kößler und sein Nachfolger Horst Schad unterstützen dieses Angebot nachhaltig.
Der Entwicklungsprozess und Ist-Zustand auf der Basis meiner Beratungen
Seit Beginn meiner Tätigkeit an der THS konnte ich folgende Problemfelder feststellen:
- Unter den ca. 2000 Schülerinnen und Schüler der THS weist ein hoher Anteil einen Migrationshintergrund sowie Fluchterfahrung auf.
- Die Schüler kommen von anderen Schulen der Stadt bzw. des Kreises Offenbach zur THS und hatten bis zu ihrem Schulwechsel wenig unterstützende Begleitung in schulischer und berufsvorbereitender Hinsicht.
- Die Eltern von Migrantenkindern besitzen kaum Informationen bzw. Kenntnisse über das Schulwesen in Hessen, geschweige denn über ihre Pflichten und Rechte als Eltern in Bezug auf schulische Angelegenheiten.
- Die jungen Migranten sind mit zwei unterschiedlichen Wertesystemen sowie Erziehungsstilen konfrontiert. Zuhause erfahren sie einen autoritären, traditionellen Erziehungsstil, während sie in der Schule einen demokratisch, kritischen Erziehungsstil erfahren.

Aus der Konfrontation dieser beiden Wert- und Normensysteme ergeben sich Konflikte. Deshalb fehlt auch eine „neue, angemessene, akzeptable“ Orientierung für die Schüler und für ihre Eltern.
Seit 2015 kamen viele junge Flüchtlinge dazu, die nach dem Asylverfahren mit ihren Familien Offenbach, bzw. dem Kreis Offenbach zugeteilt wurden sowie minderjährige, unbegleitete, jugendliche Flüchtlinge, die allein aus ihrer Heimat geflüchtet sind und ebenfalls im Rahmen des Asylverfahrens der Stadt Offenbach bzw. dem Kreis Offenbach zugewiesen wurden.
- Hinzu kommen bei vielen Kindern und Jugendlichen und deren Familien traumatische Flucht – und Exilerfahrungen.
- Die erzwungene Flucht von Jugendlichen, allein oder mit ihren Eltern, ist oft von traumatischen Erlebnissen gekennzeichnet. Kriege und Bürgerkriege, Folter, Misshandlungen, Verfolgungen, Flucht und Exil hinterlassen tiefe psychische und physische Wunden. Besonders die Kinder und junge Flüchtlinge erleben Flucht viel intensiver als Erwachsene. Ihre Traumatisierung ist aus mehreren Gründen gravierender als bei den Erwachsenen, denn sie sind von den Erwachsenen abhängig, können oft keine Zusammenhänge erkennen und häufig haben sie, je nach Entwicklungsstand, nicht die Fähigkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Dadurch entwickeln sie sehr schnell Schuldgefühle. Wie die Schüler in der Beratung erzählen, hat es oft Wochen oder Monate gedauert, bis sie allein oder mit ihren Eltern, das Exilland BRD erreichten. Diese Fluchtphase war mit ständiger Angst, Repressalien und Verhaftungen verbunden.
- Auch die restriktiven ausländer- und asylrechtlichen Bedingungen sind oft belastend. Einige Schüler müssen ständig mit der Angst leben, in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden.
Die Summierung der bisher aufgeführten Stressfaktoren führt bei vielen Schülern im Schulalltag zu folgenden Konflikten:
- Verhaltensauffälligkeiten,
- Störungen des Unterrichtsverlaufs,
- Verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit,
- Aggressionen,
- Rollenkonflikte
- Intoleranz und Abwertung gegenüber Schülern anderer Nationalitäten und Religionsgemeinschaften.
- Angst, Schlafstörungen sowie Panikattacken bei jugendlichen Flüchtlingen.
Auch aus den Gesprächen mit den Eltern sind Orientierungslosigkeit und Verunsicherung zu erkennen. Auch deshalb halten viele Eltern an den ihnen bekannten und bewährten „traditionellen und autoritären“ Haltungen fest.
Eine Folge ist u.a. häufig dominante Verhaltensweisen von Vätern und Brüdern gegenüber ihren Töchtern und Schwestern.
Aufgrund dieser Konfliktfelder wurden für die durchgeführten Beratungen folgende Ziele formuliert:
1. Die Schüler sollen die Ursachen und Zusammenhänge von Konflikten verstehen und in konstruktiver und aggressionsloser Kommunikation austragen.
2. Die Schüler sollen befähigt werden, Lösungsstrategien herauszuarbeiten.
3. Die Schüler sollen ihre positiven Ressourcen erkennen und in sichtbarer Form in ihrem Schulalltag einsetzen.
4. Die Schüler sollen die Unterschiede in den Werten und Normen bei anderen Ethnien respektieren. Sie sollen lernen, die Andersartigkeit als Bereicherung und Ergänzung ihrer eigenen kulturellen Werte schätzen zu lernen.
5. Die versetzungsgefährdeten Schüler sollen bei schulischen Defiziten weiterhin Unterstützung bekommen.
6. Die Schüler sollen im Rahmen des interkulturellen Lernens neben dem Schulunterricht auch für die Theodor-Heuss-Schule übergreifende Aktivitäten kreativ und kooperativ gestalten.
7. Die Eltern sollen neben den bis jetzt durchgeführten Beratungen auch in national- und kulturspezifische Beratungen über das Schulwesen in Hessen sowie bei den vergleichenden Betrachtungen über Erziehungs- und Bildungsvorstellungen Informationen und Sachkenntnisse bekommen.
8. Die Eltern sollen Anregungen bekommen, damit sie trotz geringer Deutschkenntnisse in der Lage sind, ihre Kinder schulisch zu begleiten.
9. Die Eltern sollen erfahren, dass die erlebten Normen und Werte ihrer Kinder sowohl im schulischen und im außerschulischen Bereich keinen Widerspruch zu ihren heimatlichen Normen darstellen, sondern als Bereicherung anzusehen sind.
10. Psychische Stabilisierung und Verarbeitung traumatischer Fluchterlebnisse.
11. Problematisierung von Anpassung und Integrationsschwierigkeiten.
12. Mobilisierung der inneren und sozialen Ressourcen der Jugendlichen, damit sie sich im Exilland neu orientieren können.
Die Lehrer der THS werden mit differenzierten Informationen über soziokulturelle, ethnische Wert-, Bildungs- und religiöse Vorstellungen der Eltern versorgt. Den Lehrern werden die Prozesse der Familiendynamik und ihre Besonderheiten sichtbar gemacht. Sie sollen die jeweiligen Verhaltensweisen von Schülern wahrnehmen und verstehen. Diese Anregungen sollen sie wie bisher in ihrem alltäglichen Unterricht anwenden.
Der Ausblick
Aus den dargestellten Erfahrungen ergibt sich die Notwendigkeit, den effizienten Entwicklungsprozess der Beratung fortzusetzen und weiter zu entwickeln.
Die folgenden pädagogischen- und Beratungsbausteine erscheinen dabei als Grundlage dringend erforderlich:
- Schülerberatung einzeln und in der Gruppe
- Elternberatung, sowohl einzeln als auch in der Gruppe
- Rücksprache und kontinuierlicher Informationsaustausch mit den Lehrern auch im Rahmen der laufenden Schüler- und Elternberatung
- Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen, sowie Flüchtlingsunterkünften
Diese Bausteine lassen sich wechselseitig ergänzen und unterstützen die THS auf ihrem Weg zu einem noch erfolgreicheren Lernzentrum. In diesem Lernzentrum, in dem alle voneinander und miteinander lernen und dabei gegenseitigen Respekt erfahren, soll eine offene und aggressionsfreie Atmosphäre herrschen.
Die Theodor-Heuss-Schule kann durch ihre Aktivitäten die Schüler unterstützen und:
- Sie zu einem erfolgreichen Schulabschluss führen
- das Selbstwertgefühl von Schülern stärken und ihre Identität fördern
- zu einer verbesserten Lehrer-Schüler-Beziehung beitragen
- die verantwortungsvolle und engagierte Zusammenarbeit der Eltern mit der Schule in allen schulischen Angelegenheiten stärker als bisher ermöglichen.
Verfasser: Dr. Nadjib Sharifi (Migrationsberater)